Sonx*

 

sekundenfest

die straßen tanzen nackt  und blau
die stunde schmeckt belebend heiß wie tee
die lampen schimmern sonnig wie ein herbstwald
und die gedanken liegen frisch wie morgenschnee
mit bloßen händen säubern wir die sinne
die stumpf wie fenster warn vom sauren regen
wir treiben unaufhaltsam durch den ozean der zeit
und ahnen es der sturm wird sich nicht legen
nicht legen

aus dem radio stürzt das schweigen
im kopf dröhnt kosmisch heißer jazz
wir weben aus dem straßenstaub was warmes
und feiern das sekundenfest
die dame die erinnerung für pflicht hält
wird traurig und erstarrt zu salz
wir lachen und wir tanzen um die säule
und endlich klopft das herz uns bis zum hals

auf dem tisch liegt eine rechnung
wir zerreißen sie und leben unsre lust
wir pfeifen auf die diktatur der mehrheit
die hoffnung als prinzip ist ein verlust
wie lange solln wir uns vertrösten
auf paradiese die dann irgendwann
mal kommen sollen während leise
und ungenutzt die beste zeit verrann
verrann

nein nein die straßen tanzen nackt und blau
die stunde schmeckt belebend heiß wie tee
die lampen schimmern sonnig wie ein herbstwald
und die gedanken liegen frisch wie morgenschnee

(1987)

***

das leben einer rose

die dame auf dem arbeitsamt
hat auch nicht grade glück
ich steige in den hochhauslift
und lehne mich zurück
ich fahr bis in den elften stock
das hochhaus hat bloss zehn
ich werf mich in den frühlingssturm
ich will die welt von oben sehn

ich segle bis zur autobahn
und weiter bis zum strand
und dann das stück zum felsenriff
und setz mich auf den rand…

du weisst dass ich nicht fliegen kann
und legst die stirn in falten
gebete in computerschrift
sind immer noch die alten
die geldtresore in der bank
sind felsenfest verschlossen
das hirn der welt liegt ungeschützt
doch es wird nicht geschossen

die kinder schreien auf dem hof
und üben schon für morgen
ich werde dir vielleicht mein herz
für ein paar tage borgen…

wer redet noch von ewigkeit
schon eine nacht ist lang
wer einmal lügt dem glaubt man nicht
dein lachen ist ein bumerang
ich schenk dir eine plastikrose
das skelett der poesie
sie blüht viel länger als wir beide
doch sagen werd ich dir das nie

tagtäglich klingeln an der tür
versicherungsvertreter
mach bitte auf und tröste sie
bezahlen kannst du später

(1992)

***

meine ahnung (frischer wind)**

Zwischen bunten Zeilen,
in Sekunden, da man schweigt,
in der Zeit des Atemholens,
in der Abenteuerzeit,
in dem Zögern unsrer Blicke,
im Moment des Sichverstehns,
in Sekunden tiefer Freude
kann man ihn schon spürn.

Bleibt auch von allem nur eine Ahnung
blitzartig nur diese leise Ermahnung
der frische Wind weht schon
auch wenn wir ihn nicht sehn

Flüstern in den Häusern,
irgendetwas ist geschehn.
Die Welt ist wie verwandelt,
man kann freier gehen.
Zerrissen ist die Lähmung,
diese dünne graue Haut,
und er weht schon in den Straßen,
wenn auch noch nicht laut.

Bleibt auch von allem nur eine Ahnung
blitzartig nur diese leise Ermahnung
der frische Wind weht schon –

Hörst du ihn schon singen,
diesen klaren, hellen Ton?
Der wird überall hin dringen
und wir leben schon.

Hörst du ihn schon singen,
diesen klaren, hellen Ton?
Der wird überall hin dringen
und wir leben schon!

(1988)

***
zwei sekunden ganz (Songtext im Poetenladen)


*

Zwischen 1980 und 1990 entstanden über 100 sonx, die nicht nur in eigenen Programmen, sondern auch sonst unterschiedlichste Wege auf halblegale Bühnen und in Samisdat-Veröffentlichungen fanden – und auch von anderen Sängern und Bands gesungen wurden. Damals gab’s leider kaum gute Aufnahmetechnik (für uns…). Wer also zufällig noch alte Mitschnitte von einem der zahlreichen Konzerten i­n den Untergrundtreffs der DDR, Ungarns, Polens oder der CSSR besitzt: Bitte melden! Einige Sonx sind mir in den Wirren der Zeit tatsächlich verloren gegangen…

**

Dieser Song war Titellied meines Programms „Frischer Wind“ für den Herbst 1988 (ich schrieb damals in jedem Sommer ein neues Programm mit ca. 20 Songs, mit denen ich dann ein Jahr lang „illegal“ durchs Land zog). Am alles entscheidenden 9. Oktober 1989 sang ich ihn vor tausenden Zuhörern auch zum legendären Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche… An diesem Abend erwiesen sich dann mehr als 100 000 todesmutige Demonstranten stärker als die „bewaffneten Organe“ der SED-Diktatur. (Und die weitere Legende besagt: Eine absteigende Hannoveraner Megarockband hat damals meine Songidee aufgeriffen und damit einen Welhit gelandet… Revolutionsrecyling zugunsten des darbenden Westens!)